Auf Wanderschaft (Teil 4 – England) 


News / Montag, Februar 6th, 2023

Fo(u)r evensongs through England

Seit einem Schüleraustausch in der neunten Klasse blieb es mir verwehrt in das uns am nächsten gelegene außereuropäische Land zu reisen. Es fühlt sich ja manchmal so an, als ob sich der Ärmelkanal  in den letzten Jahren in ein Meer verwandelt habe. Doch erst während meines Studiums habe ich die dortige Chorkultur für mich entdeckt. So entstand die Idee einen kleinen Kathedralen-Trip von Evensong zu Evensong zu machen. Daher hier die deutliche Triggerwarnung: Es geht um Kirche, Religion, Sakralmusik. Falls ihr zunächst mehr zu Evensongs und ihrer Geschichte in England erfahren wollt, klickt auf den linken Button „Geschichtsblock“. Teile der Musik, über die ich schreibe, habe ich außerdem per Youtube verlinkt, damit man sie während oder nach dem Lesen hören kann.

Evensong 1: Canterbury Cathedral

Auf Wanderschaft (Teil 4 - England)  2

Das im Neo-Tudor Stil erbaute „Beaney House of Art & Knowledge“ in Canterbury.

Von der Fähre in eine andere Welt

Eingehüllt von den ersten Strahlen der Sonne erscheint Dover Castle über den weißen Kreidefelsen. Irgendwie ein Symbol für den britischen Trotz gegenüber Europa. Schnell wollen wir von der Fähre, um unsere erste Station zu erkunden. Gezeichnet von der kurzen Nacht und den ersten 20 Meilen auf der falschen Straßenseite, erreichen wir die traditionelle Pilgerstadt, Zentrum der anglikanischen Kirche: Canterbury.

Die Stadt besticht uns mit seinen charmanten Antiquariaten, pittoresken Altbauten und der ersten gestrichenen Pinte südenglischen Ales an einem ehemaligen Mühlenkanal.

Seit dem Mord am damaligen Erzbischof Thomas Becket im zwölften Jahrhundert steht sein Grab in der Kathedrale am Ende der wichtigsten englischen Pilgerroute. Für uns aber ist es erst der Auftakt und nach einem freundlichen Empfang der „usher“ warten wir gegen 18 Uhr gespannt darauf, dass es endlich losgeht. Langsam zieht der Chor, welcher als Teil eines Ausstauschprojektes aus Greenwich, Connecticut gekommen ist, ein. Beim Vorbeigehen bewundere ich die opulenten Gewänder, Pelzfragmente und den Stab, der von der Kathedralwächterin symbolisch an den Eingang des „Quire“ (Chorraum) gehängt wird. Der Einzug ist ganz gemächlich und direkt stechen das prominent eingesetzte Schwellwerk und die tiefen Klänge des 32′ hervor. Dem Gottesdienst stehen zwei Frauen vor – auch das eine sehr angenehme Überraschung. Nach knapp 40 Minuten für mich noch nicht ganz nachvollziehbarer Liturgie, singe ich aus voller Kehle den Gemeindechoral. Zum Auszug wundere ich mich dann ein letztes Mal: Der Organist spielt zum Schluss ironischerweise die Ouvertüre zu den Meistersängern von Nürnberg – Wagner…

Evensong 2: Milton Abbey – „Voces 8“ Summer School

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Die heutige Privatschule „Milton Abbey“ wurde als Anwesen auf Basis einer früheren Klosteranlage gebaut.

Zwischen grünen Hecken und Wiesen

Ein typischer Smalltalk mit den mir begegneten freundlichen Südengländern mündet gerne in den folgenden Satz: „You are german? Oh, I love the autobahn!“ Es hat eine schmerzhafte Weile gebraucht bis ich verstanden habe, wie man unsere chronischen Baustellenmagneten so bewundern kann. Völlig naiv gebe ich unser nächstes Ziel in das Navi ein und freue mich mit dem Stau auf dem Londoner Stadtring das scheinbar größte Hindernis in der ersten Hälfte unserer Route zu überwinden. Tatsächlich ist diese erste Schlacht schnell geschlagen und siegessicher nehme ich die Ausfahrt. Was nun folgt sind 60 Meilen englische Pastoral. Wie schön, denke ich, dass es hier noch so hübsche Landstraßen gibt, die glatt aus einem alten Miss Marple Film stammen könnten. Immer wieder beeindrucken mich die Land Rover Fahrer, die es schaffen zwischen unserem Auto und den dichten Hecken, die bis auf die Straßen ragen, mit voller Geschwindigkeit hindurchzujagen. Den Rest gibt uns aber der Stau wegen eines Kürbiswettbewerbs.

Von Kreisverkehr zu Kreisverkehr beschäftigen mich die beiden Fragen, die ich mir stelle, seitdem ich zum ersten Mal eine Aufnahme von „Voces 8“ gehört habe: Intonieren die wirklich so gut oder sind die Stimmen nachbearbeitet? Und wie zur Hölle spricht man diesen Namen aus? Spanisch, italienisch, englisch?

Umgeben von nichts als Wald und Wiesen erreichen wir unser Ziel, die Privatschule Milton Abbey. Es sind Sommerferien und die Schule wird in dieser Zeit für den Sommerkurs von „Voces 8“ genutzt. In der Klosterkirche erwartet uns eine Komplet (klösterliches Nachtgebet) gemeinsam gesungen von „Voces 8“, „Appollo 5“ und den „Voces 8 Scholars“ (eine vergleichbare Aufführung ist unten bei den Videos). Das Programm enthält ausschließlich Komponisten aus dem 15. und 16. Jahrhundert, Thomas Tallis, William Byrd, Thomas Weelkes und John Sheppard und ich kann nun aus erster Hand bestätigen, dass sie nichts nachbearbeiten müssen. Der Raum ist für diese Musik gemacht und trägt jede Stimme zusammen ohne zu sehr zu verwaschen: Ein wirklich großartiges Erlebnis.

Mit Blick auf den Golfplatz der Schule lassen wir den Abend bei einem Fursty Ferret ausklingen (siehe Bild oben). „Voces 8“ bezieht sich übrigens auf den Plural von vox (lat.: Stimme) und wird italienisch ausgesprochen, die „8“ englisch.

Evensong 3: Wells Cathedral

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Vier massive Andreaskreuze wurden im 14. Jahrhundert zur Sicherung des Vierungsturmes ergänzt.

Zwischen schrägen Treppen und Säulen

Nach einer klaren Sternennacht auf dem Parkplatz der idyllischen Privatschul-Schlossanlage, machen wir uns auf in Richtung Norden. Trotz eines riesigen Umweges möchte ich unbedingt in Wells Halt machen. An dieser Stelle erlaube ich mir den dramaturgischen Kunstgriff nicht über unseren tatsächlichen dritten Evensong zu berichten, sondern über die beeindruckende Wells Cathedral und ihren Chor.

Oft auf dieser Reise bringe ich eine so aufgeladene Erwartung mit mir, dass ich manchmal überrascht bin, dass die Orte zwar überwältigen, aber von ihrer Größe nicht so überdimensional sind, wie ich sie mir in meiner Vorstellung ausgemalt habe. In Wells ist es ein ganz bestimmter Sound, von einer ganz bestimmten Aufnahme, der mich so unheimlich berührt hat, dass dieser Ort alleine deswegen schon etwas Magisches hat. Ich rede von Gary Davison’s Magnificat, dass der Kathedralchor 2018 auf dem Album „Awake my soul“ veröffentlicht hat (siehe unten). Über eine verwunschene Treppe gelangen wir in den Kapitelsaal und unweigerlich führt der Blick nach oben. Direkt erkenne ich das Albumcover wieder. Eine fast brüchige Stimme beginnt alleine, wird im unisono getragen und mündet in einen Fächer aus Harmoniebögen, um schließlich wieder im Einklang zu enden. Basierend auf dem Fundament eines alten Psalmtons gelingt der Sprung in eine zeitgenössische Klangwelt und wieder zurück. Es repräsentiert für mich das gelungene Crossover – so soll es sein.

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Von einer zentralen Säule aus entfaltet sich die Decke des Kapitelsaals von Wells Cathedral.

Evensong 4: Hereford Cathedral – Three Choirs Festival

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In Hereford steht eine der drei Kathedralen, in denen seit 300 Jahren jährlich das Three Choirs Festival stattfindet.

Drei Chöre für ein Halleluja

Über die Prince of Wales Bridge und vorbei an scheinbar unausprechlichen walisischen Ortschaften, erreichen wir das englische Hereford. Unsere Unterkunft ist ein aktiver Ruderclub, der die ihn umgebende Wiese als Campingplatz freigegeben hat. Das Zentrum der Stadt liegt fußläufig, gleich auf der anderen Seite einer größeren Straße. Das einwöchige „Three Choirs Festival“ ist eine Institution in der britischen Musikgeschichte und fest mit  Komponisten wie Elgar, Finzi, Holst, oder Vaughan Williams verbunden, die hier einige Erstaufführungen gefeiert haben. Im Zentrum stehen die drei Kathedralen von Hereford, Gloucester und Worcester, die jeden Sommer abwechselnd zum Austragungsort werden. Doch mein Eindruck ist, dass das Festival in einer Krise steckt. Wir waren mit Abstand die jüngsten Besucher und das Festival wurde von einer Generation dominiert, die es in 20 Jahren nicht mehr geben wird. Auf der anderen Seite gab es auch kaum Angebote für einen potentiellen Nachwuchs. Ich hoffe sehr, dass es dieses Festival auch noch nach 400 Jahren geben wird, aber der aktuelle Eindruck stimmte mich eher traurig.

Die British Broadcasting Corporation zeichnet jede Woche einen Evensong auf, um ihn auf BBC Radio 3 auszustrahlen. In dieser Woche sollte dieser nun aus Hereford übertragen werden und im Gegensatz zu den durchaus stattlichen Preisen der Abendkonzerte des Festivals, kostet uns dieser Hörgenuss nur die Wartezeit in der Schlange vor dem Einlass. Im Zentrum steht der im übrigen gemischte Kathedralchor von Hereford, der jedoch durch Sänger aus Worcester und Gloucester, erkennbar an den andersfarbigen Kutten, ergänzt wurde. Die Zusammenstellung von Stücken durch den Leiter Geraint Bowen präsentiert meiner Meinung nach die schönsten Farben englischer Chormusik und in den 30 Tagen, die diese Aufzeichnung noch auf der Webseite der BBC zu hören war, habe ich sie jeden Tag mindestens zwei mal gehört. Ein Eindruck dessen sind die wunderschönen „Preces“ und „Responses“ von Philip Radcliffe (siehe unten). Als textlich festgelegter Teil des Evensong, singt der „Precent“ und der Chor antwortet in einem frei auskomponierten Wechselgesang – call and response. Mich fasziniert die Vertonung von Radcliffe besonders, weil er es auf subtile Weise schafft das tonalen Zentrum zu ändern und es schafft auf unheimlich lebendige Weise durch die Texte zu manövrieren, um immer wieder auf den Ton des Vorsänger zurückzukommen. Für mich eine unheimlich inspirierende Form von Gebet

Mit Kreidefelsen im Rückspiegel

Kurz aber sehr intensiv war diese Reise. Manchmal kam ich mir vor wie in einem riesigen Freilichtmuseum. Die Kultur der anglikanischen Kirche hat für mich eine anziehende Exotik und bietet eine reichhaltige, mir kaum bekannte Musiktradition. Es gibt unzählige – wenn überhaupt – nur auf lokaler Ebene bekannte Komponisten, deren großartige Werke in Vergessenheit zu geraten scheinen. Man merkt auch hier, dass die dortige Kirche an einem Scheidepunkt ist, was mir vielleicht einzig um der Musik Willen Leid tut. Der allgemeine klassische Konzertbetrieb scheint außerdem kaum öffentlich gefördert zu werden und hat meinem Eindruck nach einen noch elitistischeren Charakter als in Deutschland. Ein Chorensemble wie Voces 8 ist als marktwirtschaftliches Unternehmen mit CEO etc. aufgebaut und hat um ihre eigentliche Konzerttätigkeit einen riesigen Apparat mit Akademie, Charity Foundation und Workshopreihen aufgebaut.

Trotzdem kehre ich mit einem Schatz an Höreindrücken zurück und hoffe, dass die dortige Tradition Wege findet sich in unserer heutigen Zeit zu vermitteln, sodass ich auch noch zum „400. Three Choirs Festival“ kommen kann.

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Geschichtsblock

Im Verlaufe dieses Trips durfte ich in Hereford einen Vortrag des Historikers Richard Fisher über die englische Reformation hören. Im Englischunterricht haben wir zwar mehrfach Heinrich VIII. behandelt, aber irgendwie ging es da hauptsächlich um seine Ehefrauen (geschieden-geköpft-gestorben-…usw.). Der englische König Heinrich VIII. wollte sich um die 1530er Jahren von seiner Frau scheiden lassen und neu heiraten, weshalb der Papst ihn aus der katholische Kirche ausschloss. Daraufhin gründete Heinrich die anglikanische Kirche von England, die den Papst als Oberhaupt ausschloss. Diese Geschichte ist weitgehend bekannt und bereits in mindestens 5 Hollywood-Filmen und Serien von durchtrainierten Model-Heinrichs verkörpert worden.

Diese englische Reformation lief wohl zeitgleich, aber weitestgehend separat von der in Kontinentaleuropa ab. Durch den Wandel von oben in dem ohnehin zentralisierteren England ging das Ganze auch deutlich konformer von statten. Bis auf das neue Kirchenoberhaupt und die Auflösung einiger ohnehin in der Bevölkerung unbeliebter Klöster änderte sich für die meisten Menschen nichts. Und London war in vielen Landesteilen doch so weit weg, sodass einige Reformen schlicht nicht durchgesetzt wurden, weil sie niemand kontrollierte.

So kommt es, dass einige mittelalterliche Formen in England bis in die heutige Zeit überleben konnten. Zum Beispiel basiert der „Evensong“ als Gebet zum Sonnenuntergang auf der klösterlichen Gebetstradition und wird in der mittelalterlichen Form bis heute in den größeren englischen Kathedralen jeden Tag vollzogen. Die musikalische Ausgestaltung von immer gleichen liturgischen Texten und sich abwechselnden Psalmen und Hymnen bietet einen Einblick in die großartige englische Musikgeschichte, sowie das hohe Niveau der dort ansässigen Chöre.