Auf Wanderschaft (Teil 2 – Riga)


News / Mittwoch, Juni 29th, 2022

Bedrohliche Ruhe

Sonnig aber kalt ist es an diesem Nachmittag in Riga. Auf dem Sockel des Freiheitsdenkmals räumen zwei Freiwillige das Blumenmeer ein, das dort vor ein paar Tagen in Erinnerung an die wiedererlangte Unabhängigkeit Lettlands zusammengetragen wurde. Das Monument aus der Zwischenkriegszeit hat die deutsche und sowjetische Besatzung auf wundersame Weise überlebt und wird tagsüber von zwei Soldaten in Paradeuniform bewacht. Das kleine Land grenzt an Belarus und Russland, wobei der Anteil ethnischer Russen mit ca. 27% deutlich höher ist, als in weiten Teilen der Ukraine. Umso nervöser ist die Grundstimmung in Anbetracht des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine.

Stadtspaziergang

Ungewöhnlich viele lettische und ukrainische Fahnen wehen auch an privaten Gebäuden. Beim Spaziergang durch die rigaische Innenstadt fallen mir auch die hervorragend restaurierten Häuser auf, die mich augenblicklich auf eine Zeitreise schicken. Plötzlich bin ich von einem dutzend Männern mit Zylinder, Frauen im Reifrock und Soldaten in zaristischen Uniformen umgeben – durch die Mengen toben zwei dreckverschmierte Kinder. Einen Moment wirkt der Schein, bis ich die ersten LKW-Anhänger einer Filmproduktionsfirma auf dem Domplatz erblicke.

Konzert im wilden Westen

Es ist Abend geworden und das lange Durchforsten lettischer Internetseiten führt uns auf die andere Seite des Flusses Dina. Auch das Pardaugava Viertel hat die Züge eines Filmsets, doch die dortigen Holzhäuser aus dem 19. Jahrhundert erinnern interessanterweise eher an einen Wildwestfilm. Das heutige Konzert ist tatsächlich ein Benefizkonzert zu Gunsten ukrainischer Flüchtlinge und das Programm ist dem Frieden gewidmet. Mit besonderer Spannung sitze ich auf der Empore der großen lutherischen Backsteinkirche, denn ich kenne keinen der Komponisten auf dem Programmheft. Während die letzten Strahlen der tiefliegenden Sonne durch die langen Fenster scheinen, stimmt der Jugendchor aus der „Doma kora skola“ das erste Stück an: „Milas dziesmas – P. Vasks“.

Seit diesem Konzert suche ich vergeblich nach einer Aufnahme dieser „Love Songs“, die auch nur annähernd an die Aufführung in Riga herankommt. Die jungen Stimmen des Chores haben eine derartige Leichtigkeit und schaffen es dennoch unheimlich präzise die feinen Sekundreibungen zu intonieren, die einem mit jedem Vorhalt Tränen in die Augen treiben. Völlig gerührt google ich noch im Schlussapplaus nach dem Komponisten, den ich eher in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verorte. Das erste Bild zeigt einen glatzköpfig-vollbärtigen Mann, der obwohl er nicht lächelt eine sehr sympathische Ausstrahlung hat. Als ich vom Handy aufschaue sehe ich ihn wieder, wie er gerade winkend und dem Chor applaudierend nach vorne geholt wird. Peteris Vasks ist einer der bekanntesten baltischen Komponisten und ich bin etwas beschämt ihn nicht früher entdeckt zu haben. Als eines seiner bekanntesten Werke gilt „Musica dolorossa“, das auch ein Ausdruck des Leidens unter der sovietischen Besatzung ist. Er steht für den Übergang in die Unabhängigkeit und die singende Revolution.

Jetlagstunde

Es ist 10h am Vormittag und aufgeregt gehe ich in Richtung des Copyshops, der auf der anderen Seite des Freiheitsdenkmals liegt. Nach einigem Mailkontakt möchte ich noch ein paar meiner Kompositionen ausdrucken, um sie in einer Dreiviertelstunde dem Komponisten Eriks Ešenvalds zu präsentieren. Auch sein Bildchen wirkt auf Anhieb sympathisch, wie es auf der Rückseite der Noten von „Only in Sleep“ neben dem Klappentext winkt. Etwas pathetisch muten dort die Sätze an: „…it is important for me to create sounds that I truly feel. I conclude that I am constantly changing, searching for new paths, but absolutely not, once having found them, mass producing them.“

Schon stehe ich im klassizistischen Foyer der Musikakademie, wo mich Eriks abholen will und versuche alle Treppen und Türen im Auge zu behalten, um ihn nicht zu verpassen. Fast hätte es nämlich nicht mehr geklappt ihn zu treffen, da er erst gestern Abend kurz vor meiner Rückreise nach Deutschland selbst aus den USA zurückgekehrt ist. Nervös blicke ich auf die Uhr und sehe meinen kurzen Unterrichts-Slot dahinschwinden. Schließlich fasse ich mir ein Herz und frage die Pförtnerin mit Händen und Füßen nach dem Weg zu seinem Raum. Schnell ist die Situation aufgeklärt und entgeistert entschuldigt sich Eriks für das Missverständnis und beklagt die Zeitverschiebung, die ihm zusetze. Gleich ist er in der Materie und fordert von mir eine Partitur nach der anderen.

What else you got?

Langsam gehen mir die Stücke aus und am Ende sieht sich Eriks von mir so ziemlich alles an, was mehr oder weniger präsentabel ist. Er geht trotzdem ins Detail, schlägt hier und da Änderungen vor, die er gleich in die Noten einträgt. Manchmal guckt er nur kurz über die Noten und fragt dann direkt nach dem nächsten Stück. „Ask yourself, is that the best I can do?“ – die Sätze aus dem Klappentext werden plötzlich lebendig. Ihm ist es wichtig sich im Kompositionsprozess immer wieder zu hinterfragen und ich wiederum verstehe es in beide Richtung: Auf der einen Seite um festgefahrene Wege und Generallösungen in Frage zu stellen, aber auf der anderen Seite auch um im Zweifelsfall zu erkennen, dass ich es gerade nicht besser hinbekomme und weitermachen kann. Zu meiner Überraschung will er sogar mein Jazzalbum hören: „Show me the sheet music of that!“ Auf dem Rechner krame ich nach den ausgeschriebenen Schlussakkorden von dem Stück „Kinderspiel“ und er nickt mir zu: „That is what you should write like for choir!“ Direkt gibt er mir eine Anwendungsmöglichkeit und entlässt mich doch erst nach anderthalb Stunden inspiriert in die sonnige Kälte. Die nächste Station liegt für mich auf der anderen Seite des großen Teiches, in New York!

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Further listening:
Ēriks Ešenvalds‘ „Stars“
https://www.youtube.com/watch?v=d7QmShkIo_E

Ēriks Ešenvalds‘ „Only in Sleep“
https://www.youtube.com/watch?v=fvPynMI6Umc

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