Auf Wanderschaft (Teil 1 – Porto)


News / Samstag, Mai 14th, 2022

Begrifflichkeiten

Dem einen oder der anderen mögen die Begriffe „Wanderschaft“ oder „Fremder“ bitter aufstoßen. Rechtspopulistische Kräfte in Deutschland spielen in ihrem Wörterkrieg nur allzu gern mit ihnen. Dabei sind sie als Teil einer alten Praxis von Wissenstransfer fest in die mitteleuropäische Kulturgeschichte implantiert. Wie im Zimmerer-Handwerk heute noch üblich, ist mein Ur-ur-Großvater noch als Wandergeselle durch die fränkischen Lande gezogen, um überregional bei verschiedenen Wagnern/Wagenbauern zu lernen und zu arbeiten. Nicht unbedingt negativ konnotiert wurden die Gesellen als „Fremde“ bezeichnet und so erschließt sich für mich endlich der Vers „Fremd bin ich eingezogen“ von Schuberts „Winterreise“. Auch meine Schwester, die das Schuhmacherhandwerk gelernt hat, begab sich nach ihrer Gesellen*innenprüfung auf eine kleine Walz und hat mich zu meinem eigenen Vorhaben inspiriert. Ich will mir die Freiheit nehmen einen fremden Ort zu erleben, mir eine Lehrer*in suchen und Musik schreiben!

Am Anfang war Carlos

Mit ungefähr 16 Jahren, als ich langsam begonnen habe Jazzmusik zu entdecken, hat mir ein Freund das Bigband-Album von Kurt Rosenwinkel gezeigt, welches mich durch meine gesamte Oberstufenzeit begleitet hat. Ich erinnere mich vor allem an zwei Geschichts-LK-Fahrten nach Polen und Berlin, durch deren bedrückende Stätten ich immer wieder das Stück „Dream of the Old“ gehört habe. Wie eine Zeitkapsel haben die verwobenen Klänge aus Klarinettenclustern und halligen Gitarrenakkorden meine damaligen Gefühlswelten festgehalten. Die großartige Komposition ist von Kurt Rosenwinkel und das magische Arrangement, das ist von Carlos!

Alte Schuhe auf dem Silbertablett

Carlos Azevedo lebt in Porto und hat als Komponist, Arrangeur und Pianist maßgeblich den Sound der dortigen Bigband „Orquestra Jazz de Matosinhos“ geprägt. Dass er ein Meister der Orchestrierung ist, kommt nicht von ungefähr, denn Carlos hat eine klassische Kompositionsausbildung genossen und neben Jazzmusik auch schon klassische Lieder und mehrere Opern geschrieben.
Ich fühle mich geehrt, dass er sich für mich Zeit nimmt, obwohl er eigentlich gerade für die Präsentation seines aktuellen Projektes üben müsste. Seine herzliche Art erzeugt bei mir direkt eine Wohlfühlatmosphäre und in  mehreren zeitlosen Stunden tauchen wir in seine musikalische Welt ein. Immer wieder betont er die starke Kontinuität des Jazz aus der Klassik. Auf meine Anmerkung der Beginn von „Dream of the Old“ mit den Offbeat-Akkorden in der Gitarre klinge ein bisschen nach einem brasilianischen Chorinho Einfluss schmunzelt er: „Dann hör dir mal Schuberts Unvollendete an!“ Gleich sucht er die Stelle im ersten Satz der Sinfonie auf YouTube und liefert den alten Schuh auf dem Silbertablett.
Als weiteres klassisches Beispiel zeigt Carlos mir den zweiten Satz aus Bartóks „Konzert für Orchester“. In einer Art Studie zu Intervallen liefert Bartók zugleich ein Paradebeispiel für das Ausspielen der Vorzüge von Instrumenten. Die kleinen Solo Duette zeigten außerdem, dass zwei gleiche Instrumente sich manchmal einfach besser mischen als die ein oder andere noch so ausgeklügelte Instrumentkombinationen. „Die kompositorische Idee gibt im Grunde genommen schon die Orchestrierung vor“, sagt er. Bei „Dream of the Old“ habe er natürlich eine Klarinette für die Melodie wählen müssen, weil sie nicht nur so nah am Klang der menschlichen Stimme ist und einen so großen Tonumfang hat, sondern auch weil sie wie kein anderes Instrument „dal niente“ (aus dem nichts) spielen kann.
So höre ich das Stück mit neuen Ohren und bin froh noch viele weitere Weisheiten von Carlos mitgeschrieben zu haben.

Freiheitstag

In meiner Zeit in Portugal hat mich besonders der offenkundige Durst nach Kunst und Kultur begeistert. Die zweitgrößte Stadt des Landes hat ein allein schon architektonisch beeindruckendes Konzerthaus mit hervorragenden Ensembles und ambitioniertem Programm. Bei einem Abstecher nach Lissabon sind wir durch Zufall in die Feierlichkeiten zum 25. April geraten. Eine ganz besondere Stimmung herrscht auf dem Platz „Largo do Carmo“, wo die Menschen vor einer Bühne zusammen singen und tanzen. Besonders an diesem Schlüsselort feiern die Portugiesen am Tag der Nelkenrevolution von 1974 die nahezu friedliche Befreiung von einem faschistischen Regime, dessen bildungs- und kulturfeindliche Politik noch heute in den Köpfen allzu präsent zu sein scheint. In diesen Tagen macht es mir Hoffnung, dass eine solche Gewaltherrschaft in seiner eigenen Müdigkeit gewaltlos ersticken kann. Ich nehme alle diese Eindrücke ins lettische Riga mit, wo ich mich als nächstes hauptsächlich der Chormusik widmen möchte.

Further listening:

Carlos‘ neues Album „Serpente“, bei dessen Premiere ich beiwohnen durfte
https://carlosazevedo.bandcamp.com/album/serpente

Big Band Album mit Carlos‘ eigener Musik
https://orquestrajazzdematosinhos.bandcamp.com/album/ojm-invites-chris-cheek