Into A Quiet World


News / Dienstag, Dezember 24th, 2024

Im Rahmen eines DAAD’s Projekts hatte ich die großartige Gelegenheit mich im englischen Durham auf die Spuren der dortigen Chorkultur zu begeben und den Nachlass eines vor kurzem verstorbenen Komponisten zu sichten. 

Der Dieseltriebzug aus Newcastle fährt zwei Minuten nach der geplanten Ankunftszeit auf dem ersten der beiden Bahnsteige ein. War der Zug auf der kurzen Fahrt noch voll, entleert er sich nun in das unter uns liegende Städtchen. Auf dem abschüssigen Weg hinunter laufe ich in einem Pulk bemerkenswert junger Menschen, die sich zielsicher auf die jeweils schnellsten Abkürzungen zu ihren Zielorten verteilen. Durch die Wipfel der Bäume konnte auch ich gerade schon die Turmspitzen meiner Bestimmung ausmachen. Doch erst muss ich mich noch durch die provinziell-wuselige Hauptstraße schlagen ohne von einem mit Schuluniformierten gefüllten Doppeldeckerbus überfahren zu werden. Endlich mündet die Straße in die an der Brücke beginnenden Fußgängerzone und meine Mühe wird belohnt. In den letzten Sonnenstrahlen des Tages glänzen die Zinnen der Burg und daneben, von den sanften Wogen des Flusses Wear gespiegelt, die Kathedrale von Durham.

Links führt der schöne geschwungene Weg durch die Innenstadt. Neben einer Gruppe in Abendgarderobe und „Gown“ ziehen zwei mit Hawaihemd, Strohhut und Sonnenbrille kostümierte an mir vorbei. Doch der Klang einer Glocke erweckt mich aus meinem kurzen Ruhemoment und erinnert an meine Verabredung. Also eile ich freudig den direkten Weg rechts hoch, durch das Wäldchen, entlang der Burgmauer. Heute wird mir ein kleines Abschiedgeschenk bereitet. Auf dem Programm des Choral Evensongs steht zum ersten Mal seit meiner Ankunft der Komponist wegen dem ich nach Durham gekommen bin.

Tony, Chorbibliothekar und Altus-Sänger an der Kathedrale, hat mir freundlicherweise angeboten bei der einzigen Probe eine halbe Stunde vor Beginn zuzuhören. Am Lettner, der in den holzvertäfelten Chorraum des fast tausend Jahre alten Gebäude führt, drückt Tony mir die Noten zum Mitlesen in die Hand. Der Kathedralchor, bestehend aus sechs Profisängern, sechs Studierenden und abwechselnd Knaben- oder Mädchenkantorei singt im Normalfall jeden Tag von Dienstag bis Sonntag zum gesungenen Abendgebet ein täglich wechselndes Programm auf allerhöchstem musikalischem Niveau. Ich setze mich hinter den Chor, wo sonst die Kanoniker sitzen und schlage die Partituren auf. Interessanter noch als die gedruckten Noten, sind für mich die vielen Bleistift Eintragungen, die von der musikalischen Praxis zeugen, z.B. bei einem schwierigen Einsatz: „Sang too early, 16/2/2018 :)“. Doch heute kann der „Master of the choristers“ sich nur auf kleine Details konzentrieren, denn die Vertonung von Magnificat und Nunc Dimittis, die im Zentrum des Evensongs stehen, kennen alle sehr gut. Sie sind von einem seiner Vorgänger: Richard Hey Lloyd.

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Der Nachlass von Richard H. Lloyd in der Bibliothek von Durham Cathedral.

Ein Lebenswerk in fünf Plastikboxen

Die Geschichte wieso ich überhaupt nach Durham gekommen bin, ist an sich fast schon wundersam. Bei meiner letzten Reise nach England (siehe hier) stieß ich in Hereford Cathedral ich zum ersten Mal auf die Musik von Lloyd. Auch dort war er als Kathedralorganist und Chorleiter tätig und so wurde ihm kurz nach seinem Tod 2021 beim dort stattfindenden „Three Choirs Festival“ besonders gedacht. Im Nachgang hat mich die Aufnahme seines Stücks „Open Our Hearts“ (siehe Link unten) besonders fasziniert und so versuchte ich in der nachfolgenden Zeit die dazugehörigen Noten zu finden – zunächst erfolglos. Endlich geriet ich über einige Ecken an die Mailadresse von Simon Anderson, der den Nachlass Lloyds verwaltet. Dieses spezielle Stück würde er sehr gut kennen, schrieb er, es sei nämlich seiner Frau und ihm zur Hochzeit gewidmet.

Aus dem weiteren Kontakt und den Erzählungen zeichnete sich das Bild eines liebevollen, wie bescheidenen Mannes, der für die Musik gelebt hat, der Zeit seines Lebens für seine Tätigkeit als Chorleiter und Kathedralorganist, sowie seinen Freunden gewidmete, fantastische Musik schrieb, die er wohl selbst als nicht allzu gut erachtet hat. Simon erzählte mir von den hunderten Manuskripten, die er hinterließ. Ein Großteil derer nie veröffentlicht geschweige denn aufgenommen wurde. All das liege nun in fünf Plastikboxen in der Kathedralbibliothek in Durham. Das wollte ich zum Anlass nehmen mit finanzieller Unterstützung des DAAD bei der Digitalisierung dieses Werks zu helfen, denn der Plan ist es langfristig der interessierten Öffentlichkeit die unveröffentlichten Stücke digital zur Verfügung zu stellen und mein Plan ist es darüber hinaus diese wunderschöne Musik in Deutschland aufzuführen.

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Richard H. Lloyd und das Manuskript eines seiner Stücke (siehe Youtube Link unten)

I love my fluffy cat

Es ist Mittwochnachmittag und ich bin im siebten Himmel. Noch vor einer Stunde war ich froh mit Hatfield’s College Choir meinen ersten Chor in Durham gefunden zu haben. Jetzt bin ich schon auf dem Weg zu meinem ersten Evensong mit meinem zweiten Chor – an Tenören mangelt es zum Glück auch hier. Der Chor von St. Hild and St. Bede’s College singt wegen Umbauarbeiten nicht in der College eigenen Kapelle, sondern in der Pfarrkirche St. Cuthbert. Innerhalb von einer Stunde muss das Programm stehen, das nicht nur ich heute zum ersten Mal sehe. Doch das scheint hier normal zu sein und viele in den hiesigen Chören sind mit dieser Arbeitsweise selbst als Chorister in den Kathedralen des Landes aufgewachsen.

Doch die größte Herausforderung ist für mich heute nicht das Magnificat und Nunc Dimittis von Edward Bairstow. Eine besondere Spezialität in der anglikanischen Evensong Tradition sind die Psalmvertonungen. Diese finden sich nicht als Noten ausgeschrieben, sondern begnügen sich damit einen wiederkehrenden vierstimmigen Satz links oben einmal und folgend nur den Psalmtext mit gewissen Markierungen abzudrucken. Die Herausforderung ist es also den Chorsatz möglichst schnell und gut auswendig zu lernen. Bea, die Chorleiterin hat aber einen Trick: Anstelle der mit komplizierten Eigennamen gespickten alttestamentlichen Psalmtexte, lässt sie den Chor zunächst einfach nur folgenden Satz singen: „I love my cat, I love my fluffy cat“.

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Der Chor von Hatfield College mit einem sehr, sehr glücklichen deutschen Gastsänger.

All So Still

Jetzt sitze ich in Köln mit Blick auf den heute mal ganz ruhigen Ebertplatz und frage mich, ob das alles ein Traum war. Ich denke an die großartigen Menschen, die ich kennenlernen durfte, die mich offenherzig aufgenommen haben, die engagiert und mit Herzblut die Kultur dieses kleinen englischen Städtchens lebendig halten. Leute, die Physik oder Biochemie studieren und gleichzeitig Musik auf höchstem Niveau singen, deren Erinnerung mich jetzt schon wieder fast zum Weinen bringt. Nicht um es dann auf TikTok zu posten oder um reich oder berühmt zu werden, sondern aus Liebe zur Musik und zum gemeinsamen Klang. Daraus habe ich unheimliche Inspiration mit nach Hause und einen Koffer voller Noten.